Es ist schon bemerkenswert, wie in unserer Kultur die Hartnäckigkeit, mit der an der Berechenbarkeit des Verhaltens komplexer (sozialer) Systeme geglaubt wird, in dem Maße zunimmt, in dem parallel dazu die (wissenschaftliche) Erkenntnis wächst, dass Unberechenbarkeit ein zentrales Merkmal eben jener komplexen (sozialen) Systeme ist. Big Data ist Ausdruck einer verzweifelten Illusion, der Apotheose des mechanistischen Denkens im digitalen Zeitalter, und mancher ahnt, dass das für den Einzelnen und die Gemeinschaft unangenehme Folgen haben könnte.

Eine interessante Hypothese dazu liefert Evgeny Morozov in seiner Kolumne: Big Data, so seine bedenkenswerte Idee, befreit von der Notwendigkeit, die Dinge, Menschen, Systeme verstehen zu müssen, um ihr Verhalten vorherzusagen. Statt dessen werden Daten zu Anzeichen für Muster, von denen man annimmt, dass sie mit einer relevanten Wahrscheinlichkeit mit bestimmten zukünftigen Handlungen (eine bestimmte Partei wählen, ein bestimmtes Produkt kaufen, einen terroristischen Anschlag planen) verknüpft sind.  Morozov spricht in diesem Zusammenhang vom „Ende des Verstehens“: Die Konstruktion und das Aufspüren von Mustern aus einer Unmenge von Daten befreit die Controller hinter den Kulissen und ihre Auftraggeber in den Zentralen von der lästigen Notwendigkeit, die Frage nach dem „Warum“ zu beantworten – und damit auch von der Last, die Geschichte hinter einer bestimmten Tat oder Handlung zu kennen und zu verstehen.

Big Data konstruiert „Identitäten“ ohne Story

Wenn eine Erzählung immer die Beschreibung eines Geschehens mit impliziten Theorien zur Erklärung des Beschriebenen verknüpft und schließlich ausdrücklich oder unausgesprochen bewertet, so schreitet der Algorithmus, welcher Daten zu Mustern computiert sofort zur Bewertung, indem er „Treffer“ liefert.

Wie solche „Treffer“ dann aussehen können, beschreibt David Applebaum im Interview mit Jung & Naiv.

“There exists a concept that’s called ‘The data doubleganger’, and this is essentially the data shadow you leave behind. And the thing is, at some point it becomes more you than you. Someone looks at you and they say – oh you’re very radical politically. But, you’re not. You just happen to read very broadly across many different spectrums.”

Während Geschichten deshalb so wichtig sind für die Verständigung und das Verstehen, weil sie Menschen und ihre Handlungen in einen relevanten Kontext stellen, und das Geschilderte eben dadurch verstehbar machen, kommt Big Data umgekehrt vollkommen ohne Kontexte aus.
Warum jemand zum Terroristen wird oder warum das Phänomen überhaupt in diesem Ausmaß gewachsen ist, spielt dann überhaupt keine Rolle mehr (ebensowenig, warum jemand konservativ wählt oder einen SUV kauft).

Kontrolleure wollen kein Narrativ

Um es noch deutlicher zu sagen: All diese Systeme können nicht nur Verhalten nicht erklären, sie können auch Verhalten nicht vorhersagen. Ärgerlich, wenn auch manche Kritiker von Big Data dieser Illusion aufsitzen. In Wahrheit ist es doch viel schlimmer: Die Illusion von Vorhersagbarkeit und Kontrolle gebiert Entscheidungen und Maßnahmen, die im Sinne einer selffullfilling prophecy unser aller Lebensumstände, unsere sozialen Umwelten präfigurieren und uns als Bürger, Konsumenten, Tätige um wertvolle Optionen bringen. Denn wo die Illusionisten hinter den Tapetentüren von Big Data Muster erkennen, da beeinflussen sie aufgrund ihrer „Erkenntnisse“ Entscheidungen über Gesetze, Produkte, Sicherheitsmaßnahmen, Angebote, und nicht zuletzt über die Bilder und Einflüsterungen, von denen sie glauben, dass sie uns in ihrem Sinne beeinflussen könnten. So leben wir jeden Tag ein wenig mehr in einer Welt, die von diesen Leuten aufgrund dieser Art von „Vorhersagen“ erst geschaffen wird: Wem das gefällt, der weiß noch nichts von seinem Problem. Wer diese Welt verändern möchte, dem muss klar sein, dass die Datenillusionisten genau das verhindern wollen. Kontrolleure wollen nicht etwa ihr Narrativ, sie wollen gar kein Narrativ, weil Geschichten von Veränderung handeln und überraschende Wendungen erzeugen.

All jene, die angeblich alles über uns wissen (also die großen Geheimdienste, die Internetriesen, die Datenbankanreicherer aus der Kundenbeobachtungsbranche) interessieren sich nicht im Geringsten für unsere Geschichte! Und wer sich nicht für unsere Geschichte interessiert, der interessiert sich nicht für uns (jedenfalls nicht im emphatischen Sinne des Wortes „Interesse“). Das Interesse derer, die uns da beobachten, gilt einzig und allein Äußerungspartikeln wie Clicks und Adressierungen, deren relativer Häufigkeit und deren vermutetem Zusammenhang, der für die Rasterung im jeweiligen Verwertungszusammenhang relevant ist. Sollte irgendjemand dann das relevante Muster erfüllen (durch welchen dummen Zufall auch immer), wird er das intrikate Problem haben, jemandem diesen „Treffer“ erklären zu müssen, der überhaupt nicht an Erklärungen interessiert ist und jemandem seine Geschichte zu erzählen, der das narrative Denken schon längst verlernt hat. Ein kafkaeskes Szenario, das Gerd Antes in der FAZ eindringlich und nüchtern zugleich beschrieben hat (und eben nicht nur anhand von Prism, sondern auch am Beispiel der scheinbar so unverdächtigen Gesundheitsscreenings).

Das Ende des Verstehens (bzw. des Verstehen-Wollens), das Desinteresse an Erklärungen signalisiert mit aller Deutlichkeit: Hier will keiner die Rahmenbedingungen modifizieren. Es geht nur noch darum, dass alles so bleibt wie es ist, weil man die Illusion hegt, das, was ist, „im Griff zu haben“, während man sich höllisch vor allem fürchtet, was sein könnte. Das ist die eigentliche Botschaft hinter Prism, Big Data und allem, was daran hängt.

Storytelling als Gegenmittel

„Man könnte unterscheiden zwischen Big Data (Zahlenmaterial, das für Korrelationen herangezogen wird) und dem Big Narrative, einem historisch-anthropologischen Ansatz, der zu erklären versucht, warum die Dinge so sind, wie sie sind“, folgert Morozov und darüber hinaus, dass die Beobachtungsapparate an letzterem gar nicht interessiert seien: Zu komplex, zu kompliziert, zu langsam, zu mühsam. Was aber wäre in dieser Analogie eigentlich das Big Narrative? Doch nicht die eine, große Erzählung und damit Erklärung, sozusagen die erzählte „Weltformel“. Vielmehr der nie endende Strom von Geschichten, in dem und durch den Menschen sich und ihresgleichen erzählen und erzählt werden und der widerspiegelt, was das Lebendige ausmacht: Und der übrigens voller Geschichten steckt, die die Unwirtlichkeit und den Irrsinn der Big Data Welt schon vorausgeahnt, vorausbeschrieben und entlarvt haben. Im Zeitalter von Big Data wird das ehemals Selbstverständliche erneut und ausdrücklich zur Pflicht: Die eigene Geschichte bewusst zu pflegen, ihr Lebendigkeit zu verleihen, sich immer und immer wieder neu zu erzählen, die Geschichten der anderen zu hören, auch sie weiter zu erzählen, sie zu interpretieren – und zu verstehen.

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