Schirrmachers Horrorszenario: Von Maschinen erzählt zu werden

Kategorien Storytelling-Diskurs

In einem  Essay zur NSA, Prism-Affaire und Big Data stellt Frank Schirrmacher in der FAZ u.a. die These auf, die digitale Totalüberwachung unserer Kommunikationen werde in letzter Konsequenz dazu führen, dass unsere Biografien von den Prognosealgorhitmen der Überwacher in Wirtschaft und Staat so konsequent vorauserzählt werden wird, dass ein Entrinnen kaum mehr vorstellbar ist.

Unsere Daten und Datenspuren, so Schirrmacher, würden zu „neuen Lebensnarrativen“ computiert: Der geheimdienstlich-ökonomisch-digitale Komplex, so kann man Schirrmacher lesen, erschaffe „digitale Doppelgänger“, die von den Überwachungs- (und Bestrafungs-)Instanzen letztlich ernster genommen würden als unsere realen Existenzen. „Überwachung als Bestandteil der Informationsgesellschaft… verhindert auch, wie Stephen Baker gezeigt hat, dass die angeblich falschen Leute Kredite bekommen oder Karriere machen. Überwachung in der Gesellschaft der Zukunft ist eine gigantische Risikoeinpreisungsmaschine, die buchstäblich alles bewertet und hochrechnet.“

Die Irrelevantsetzung autobiografischen Erzählens

Aus Sicht der Narratologie findet hier tatsächlich ein fundamentaler Wandel statt: Vom (auto-)biografischen Erzählen als Akt der Re-Organisation von Erlebnissen und Re-Interpretation der eigenen Lebensgeschichte und damit der eigenen Identität, hin zu einem Vorauserzählen des Lebens, einer Prä-Interpretation von Handlungen und Äußerungen, die Identität fremdbestimmt und vor allem: keinen Spielraum für Optionen mehr lässt. Die eigene Geschichte wird ersetzt durch einen hochgerechneten Plot, der keine Überraschungen mehr kennen (oder auch nur als solche wahrnehmen) darf, soll die von Schirrmacher erwähnte „Risikoeinpreisung“ auch funktionieren. Ganz nebenbei wird ein solches System ein gesteigertes Interesse daran haben, Wissenschaft und Forschung genau dann zu fördern und ihre Hypothesen genau dann wahrzunehmen, wenn sie darauf abzielen, menschliches Verhalten und physiologische Entwicklungen als vorhersagbar zu klassifizieren. (Wie lautet doch der Schluss von Brett Easton Ellis „American Psycho“ so schön: „No Exit“).

Dabei wird die eigene Geschichte, die Selbst-Erzählung nicht etwa enteignet werden: Sie interessiert schlicht nicht mehr und wird komplett ignoriert. Die eigene Geschichte wird keinerlei Beweiskraft mehr haben vor Instanzen, die aufgrund ihres Zynismus, ihrer Paranoia und vor allem, aufgrund ihrer Datensammlung überzeugt sein werden, das jeweilige Exemplar der Gattung wesentlich besser zu kennen, als das es jemals selbst könnte. Die eigene Geschichte wird vor diesem Hintergrund endgültig als Fiktion denotiert werden, die der wahren Geschichte der aus den digitalen Abhörprotokollen computierten Existenz so wurscht sein wird wie irgendwas.

Vom erzählten Wesen zum hochgerechneten Wesen

Dass man nicht nur erzählt (lebenslang und in immer neuen Varianten eben auch: sich selbst), sondern, wie Ludwig Harig es ausdrückt, auch erzählt wird, ist nicht nur nichts Neues, sondern gehört zu den anthropologischen Kosntanten jeglicher Identitätsbildung. Integration in Gruppen verläuft immer auch durch erzählen über die Mitglieder. Wo jeder (über) die anderen erzählen darf und selbst wiederum Gegenstand der Erzählungen anderer ist, entstehen Bindungen, gemeinsame Konstruktionen sozialer Realität, Gruppen- und Einzelidentitäten in oszillierenden Prozessen. Den Anderen zu „erzählen“ und anderen einen Anderen (oder eine Gruppe von Anderen) zu „erzählen“, war aber auch immer schon  Strategie der Ab- und Ausgrenzung. Storytelling ist nicht per se „gut“ und begleitete von jeher nicht nur Prozesse der Integration, sondern ebenso Kampagnen der „Zersetzung“, des Ausstoßens und Tilgens.

Neu an der von Schirrmacher skizzierten Variante ist allerdings, dass hier die Fremderzählung der Identität nicht nur von nicht-menschlichen Instanzen entworfen wird, sondern dass sie auch im Geheimen abläuft. Hier geht es nicht um ein veröffentlichtes Erzählen, an dem sich andere – und auch die Betroffenen – mit „Gegengeschichten“ beteiligen könnten. In der negativen Utopie der identitätserzählenden „Risikoeinpreisungsmaschinen“ weiß man nur noch, dass man erzählt wird, aber man wird nicht genau wissen, welches Narrativ einem zugerechnet wird und andere werden es auch nicht wissen.

Selbst wenn alles nicht so schlimm kommen sollte wie möglich, ist bereits das, was wir heute haben, ungut genug, um über Gegenmaßnahmen nachzudenken. Man kann ja beispielsweise der Meinung sein, dass die Menschen in der Personalabteilung des Unternehmens, bei dem man sich bewirbt, nicht so kleinkariert sein werden, irgendwo im Internet herumschwirrende Daten, die als Dokumente einer jugendlichen Verirrung intepretiert werden könnten, trotz sonstiger guter Referenzen überzubewerten. Man sollte aber Gleiches nicht von dem Suchroboter des Unternehmens annehmen, der im Auftrag eben jener Firma, bei der man so gerne arbeiten möchte, eine Vorsortierung trifft, die zur Folge hat, dass die netten Menschen von der Personalabteilung die entsprechende Bewerbung erst gar nicht zu Gesicht bekommen werden. Flucht in multiple Netzidentitäten wird vor solchen digitalen Sortierungsoperationen keine ernsthafte Alternative sein. Prophylaktisches Wohlverhalten könnte aber ebenso einen Verdachtsalgorhitmus aktivieren wie der Versuch, eine analoge Existenz zu führen.

Die löchrige Argumentation der maschinenerzeugten „Geschichten“ aufzuzeigen, wäre da schon eher eine Strategie. Mehr noch: aufzuzeigen, dass es sich bei diesen Konstrukten gar nicht um Geschichten handelt, sondern um die Erzeugung von Mustern, aus denen Feststellungen resultieren, die mit der Geschichte der Betroffenen nichts zu tun haben, die nichts beschreiben, nichts erklären (und auch nichts erklären wollen) – aber dennoch bewerten oder vielmehr (vor)verurteilen (ein wahrlich kafkaesker Prozess).

Alle Formen zu nutzen, die es Menschen ermöglichen, (über) sich und andere zu erzählen und diese Geschichten ernst zu nehmen, wäre eine Dauerstrategie. Dazu bedarf es aber auch einer Kultur des Zuhörens und Verstehens, die zu entwickeln und zu praktizieren uns nicht mehr viel Zeit bleibt.

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