Reaktion auf den Veggie-Day: Merkel ändert die CDU-Story und beantwortet implizit die Gretchenfrage.

Kategorien Storytelling und Politkommunikation

Ein Ausflug auf das Feld der Rhetorik muss im Storytelling-Blog nicht nur erlaubt sein sondern ist sogar geboten: Kommt es doch auch beim Erzählen darauf an, jedes Wort wohl zu wägen.

Angela Merkel tut dies in der Regel wie kaum ein zweiter Politprofi. Sie hat den scheinbaren Verzicht auf rhetorische Kniffe zum Hauptinstrument ihrer politischen Redekunst erhoben und spricht somit auf den ersten Blick einfach, schnörkellos und verständlich, was neben dem Nimbus ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung entscheidend zu dem Vorurteil beiträgt, sie denke und agiere mit gesundem Menschenverstand und gereinigt von unwägbarer Emotionalität. Somit ist auch nicht zu vermuten, dass die Kanzlerin sich hat hinreißen lassen, als sie laut SZ bei einer Wahlkampfrede in Hessen sagte:

„Leute, die wissen müssen, wann sie Fleisch essen dürfen und wann nicht, die brauchen nicht CDU zu wählen.“

Zunächst einmal gilt es, die feinen sprachlichen Unterschiede zu beachten: Merkel hat nicht etwa gesagt: „Leute, die sich vorschreiben lassen…“ und auch nicht „verbieten lassen…“. Ihr geht es vielmehr um die semantische Opposition von /Bewusstheit/ und /Intuition/. Wer zu den Auserwählten gehört, die ihr und der CDU als Wähler erwünscht sind, braucht kein explizites Wissen – sei es über Gebote, Regeln oder Vernunftgründe – im Hinblick auf den Fleischkonsum: Die „richtigen“ Leute handeln instinktiv richtig, sie handeln sinniger Weise „aus dem Bauch (!) heraus“.

Was aber sind die anderen eigentlich für „Leute“? Menschen, die nach Maßgabe der von der Rednerin eingeführten Unterscheidung nicht aus dem Bauch entscheiden können, was sie (essen) dürfen, sondern sich auf die Kenntnis eines moralischen Regelwerks beziehen müssen, eine verfasste, normative Ethik „brauchen“, wie sie traditionell und exemplarisch von den monotheistischen Religionen zur Verfügung gestellt werden? Speisevorschriften etwa, wie sie neben Judentum und Islam, auch das Christentum tradiert, und die zumal den Katholiken einen identitätsstiftenden Regelkatalog liefert, den die religiösen Institutionen lehren und den die Gläubigen kennen müssen, damit sie „wissen, was sie dürfen“ oder sollen. Logischer Weise sind es auch und gerade solche Bürger, solche Wähler, die – nimmt man Merkels Worte ernst (und wer täte das nicht) – nun nicht mehr zur Zielgruppe der neuen, der merkelschen CDU gehören und auf die sie gerne verzichtet!

Merkel schreibt eine neue CDU-Story für neue „Leser“

Wer sich gefragt haben sollte, warum es dem konservativen Lager in der CDU so unwohl ist mit seiner Kanzlerin und Parteivorsitzenden, der müsste spätestens nach Rezeption dieser Äußerung ahnen können, warum dem so ist. Schließlich rekrutierte sich in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein nicht unwesentlicher Teil der christ(!)-demokratischen Stammwählerschaft aus „Leuten, die wissen müssen, wann sie Fleisch essen dürfen“. Damit ist aber nun offenkundig Schluss: Merkels Äußerung richtet sich nicht einfach gegen einen unterstellten grünen Fundamentalismus; sie zielt auch auf den konservativen Flügel der eigenen Partei mit der Botschaft: Begreift endlich, dass die Geschichte der alten, der West-CDU vorbei ist, ich schreibe schon längst an einer neuen Story für andere Leser (Wähler). Merkel weiß, dass die Geschichte der bundesrepublikanischen CDU obsolet geworden ist und dass der Erfolg der Partei in der deutschen Nach-Wende-Republik nicht mehr von einer Wählergruppe abhängt, die sich aus demographischen und mentalitätsgeschichtlechen Gründen beschleunigt der Nullinie nähert. In der neuen, merkelschen CDU-Story zahlt eine neue Koppelung auf den Erfolg ein, eine Koppelung zwischen ihr und einer großen, sozial durchaus heterogenen Schicht von Deutschen, die sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert modern gemacht haben und nun von der Befürchtung getrieben sind, dass sich etwas an dem erworbenen Lebensstil ändern könnte; Neo-Conservatives (wofür jetzt das „C“ zu stehen scheint), die sich am geistig-ästhetisch-lebensweltlichen status quo festkrallen, weil ihnen nichts besseres einfällt.

Scheinbar nebenbei zieht diese Wahlkampfaussage eine Trennlinie, die die eigenen Wertkonservativen in das selbe Spielfeld rückt, auf denen sie auch die GRÜNEN verortet: In der merkelschen Story spielen nämlich nicht mehr linke Moralisten gegen konservative Moralisten, sondern gestrige Moralisten gegen zeitgemäße Pragmatiker! Deren Stimmenpotenzial hält Merkel offenbar für groß und stabil genug, dass sie es für lohnenswert erachtet, so zu tun, als repräsentiere sie sie. Was diesem kernprägnant-randunscharfem Milieu zudem eignet, ist ein Trotz, der aus der verdrängten Einsicht resultiert, dass sich die Dinge umso dramatischer ändern werden, je mehr man sich weigert, sich aktiv auf mögliche (und immer wahrscheinlicher werdende) Zukunftsszenarien vorzubereiten. Aus dieser Einstellung resultiert dann jene Renitenz, die Merkel optimal bedienen kann, und die eben den Kern jenes „Pragmatismus“ ausmacht, den ihre Anhänger (und viele ihrer Gegner) offen oder verhohlen bewundern: „Wir lassen uns von niemandem etwas vorschreiben – außer von der Realität.“

„Leute, die wissen müssen, wann sie Fleisch essen dürfen und wann nicht, die brauchen nicht CDU zu wählen.“

In einer einzigen sprachlichen Volte bedient die Rednerin Merkel jedoch nicht nur den kindlichen Trotz ihrer Klientel („Genau! Wir wissen selbst, was (für uns) gut ist! Wir lassen uns nix vorschreiben!“) sondern emphatisiert ihre eigene siegesgewisse Souveränität: Während eine Kandidatin der GRÜNEN letzte Woche bei einer rot-grünen Selbstmotivationsveranstaltung in Berlin noch offen eingestand, es sei ihr bei dieser Wahl letztlich wurscht, warum man sie wähle, denn jede Stimme zähle, stellt die Kanzlerin sich hin und sagt es den Nicht-Pragmatikern aller (!) politischen Lager nonchalant ins Gesicht: Wir brauchen euch nicht! Wählt doch die „loser“.

Die Antwort auf die Gretchenfrage: Wie immer implizit, aber deutlich

Unter Merkel ist die CDU damit zur Partei der fatalistischen Freiheit geworden, sich von nichts mehr leiten zu lassen als von der selbsterzeugten Alternativlosigkeit, die den „Umständen“ zugeschrieben werden kann. Wer sich durch so etwas beruhigen lässt, muss tatsächlich „nicht wissen“, was er „soll“: Die Steuerung durch Sachzwänge kann auf Moralin verzichten, kommt ohne ethical guidelines aus. Der Merkelsche Konservatismus kann daher bewusst den Rückgriff auf Religion, Ideologie, Visionen und Utopien vermeiden. Dass die Partei in einer Broschüre ihren Wahlkämpfern empfiehlt, möglichst viel von „Werten“ zu sprechen und „Werte“ in jedem Fall vor „Fakten“ zu bringen, ist dabei kein Widerspruch: Der neue Konservativismus nutzt das emphatische Reden über „Werte“ und macht dabei klar, er werde „Werte“ nicht ohne Not (also etwa aufgrund von Analyse und kritischer Reflexion der Lage und auch nicht zur Gewinnung neuer Handlungsoptionen) revidieren oder gar fallen lassen – aber sehr wohl, wenn ihn die „Realität“ dazu zwingt, denn: Not kennt kein Gebot.

Wie auch immer: Mit ihrer Veggie-Day-Idee und den Reaktionen darauf hat die grüne Partei die neue politische Tektonik an einem schönen Beispiel exemplarisch hervortreten lassen: Während die „Fortschrittlichen“ uralte religiös-kulturelle Modelle in säkularisierter Form wiederauferstehen lassen, erhält dadurch die Chefin der C-Konservativen die Möglichkeit, die Gretchenfrage auf ihre Weise zu beantworten: Wie hält es die Kanzlerin mit der Religion? Nun, offenbar so pragmatisch, dass denjenigen, die sich noch in der alten CDU-Story zu befinden glaubten, spätestens jetzt die Augen aufgegangen sein sollten. Ob nun Angela Merkel diesen Satz „bewusst“, oder „aus dem Bauch heraus“ gesagt hat, spielt dabei kaum eine Rolle: Ihre Sprache spricht für sich.

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