Wo von „Storytelling“ die Rede ist, da wird gerne auch von „Dekonstruktion“ gesprochen: Frank Wilhelmy hat in der Diskussion zu seinem hier besprochenen Vortrag bei der Heinrich Böll Stiftung in der Diskussion – übrigens grundsätzlich zu Recht – darauf hingewiesen, dass da, wo Storytelling als Kommunikationstool wichtig ist (oder werden wird), die Beobachtung der Storys der Gegner bzw. Konkurrenten und deren „Dekonstruktion“ ebenfalls an Bedeutung gewinnen wird.

„Dekonstruktion“ – ein Placebo-Begriff

Nun scheint mir allerdings „Dekonstruktion“ einer von jenen Begriffen, die von manchen Rednern gerne als Placebos verwendet werden, welche vornehmlich Konsensangebote jenseits der inhaltlich-argumentativen Ebene des Textes darstellen: Verbrüderungsofferten nach dem Modell „Sie-wissen-schon-was-ich-meine-schließlich-sind-wir-alle-schlaue-Kerlchen-nech!“. Falls man seine Zuhörerschaft richtig eingeschätzt hat, fällt das Publikum mehrheitlich gerne drauf rein. Im Ergebnis entsteht ein Wir-Gefühl zwischen Menschen, die nicht aus-gebildet genug sind, als dass sie sich den eigenen Status als Gebildete gegenseitig nicht immer wieder bestätigen müssten.

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In einem  Essay zur NSA, Prism-Affaire und Big Data stellt Frank Schirrmacher in der FAZ u.a. die These auf, die digitale Totalüberwachung unserer Kommunikationen werde in letzter Konsequenz dazu führen, dass unsere Biografien von den Prognosealgorhitmen der Überwacher in Wirtschaft und Staat so konsequent vorauserzählt werden wird, dass ein Entrinnen kaum mehr vorstellbar ist.

Unsere Daten und Datenspuren, so Schirrmacher, würden zu „neuen Lebensnarrativen“ computiert: Der geheimdienstlich-ökonomisch-digitale Komplex, so kann man Schirrmacher lesen, erschaffe „digitale Doppelgänger“, die von den Überwachungs- (und Bestrafungs-)Instanzen letztlich ernster genommen würden als unsere realen Existenzen. „Überwachung als Bestandteil der Informationsgesellschaft… verhindert auch, wie Stephen Baker gezeigt hat, dass die angeblich falschen Leute Kredite bekommen oder Karriere machen. Überwachung in der Gesellschaft der Zukunft ist eine gigantische Risikoeinpreisungsmaschine, die buchstäblich alles bewertet und hochrechnet.“

Die Irrelevantsetzung autobiografischen Erzählens

Aus Sicht der Narratologie findet hier tatsächlich ein fundamentaler Wandel statt: Vom (auto-)biografischen Erzählen als Akt der Re-Organisation von Erlebnissen und Re-Interpretation der eigenen Lebensgeschichte und damit der eigenen Identität, hin zu einem Vorauserzählen des Lebens, einer Prä-Interpretation von Handlungen und Äußerungen, die Identität fremdbestimmt und vor allem: keinen Spielraum für Optionen mehr lässt.

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