„Verrechnet!“ geht voll auf: Ein gelungenes Beispiel journalistischen Storytellings
Kategorien Lese-Stoff: Bücher rund um Storytelling, Storytelling-DiskursNaturgemäß muss man erst einmal eine solche Geschichte haben. Muss das Gespür dafür haben, dass man eine Story gefunden hat, die es auch verdient, als Geschichte erzählt zu werden. Es dann auch zu tun und erzähltechnisch gut zu tun, ist dann immer noch eine bemerkenswerte Leistung.
Eine Story mit mehreren Ebenen
Marc Brost, Mark Schieritz und Wolfgang Uchatius haben es getan, in der ZEIT Nr. 27 2013. Die Geschichte selbst soll hier nicht nacherzählt werden, es lohnt sich, Inhalte und Art der Darstellung im Original nachzulesen. „Verrechnet!“, so der Beitragstitel, handelt vom Wissenschaftsbetrieb, vom intrikaten Verhältnis von Wissenschaft – in diesem Falle von der Volkswirtschaftslehre –, Politik und Wirklichkeit. „Verrechnet!“ handelt auf der nächsten Ebene von Glaube und Zweifel, von Autoritätsbeweisen und vom Expertentum aus erster, zweiter und dritter Hand und wie das sich als Gott auf tönernen Füßen entpuppt (by the way ein schönes Beispiel für Campbells entsprechende Figurenklasse).
„Verrechnet!“ handelt schließlich auch, zumindest auf der Metaebene, vom Verstärkereffekt und von der Janusköpfigkeit der Medien (auch der wissenschaftlichen Fachpublikationen!); handelt von der weitgehenden Vernunftfreiheit von Rezipienten aller Klassen und Professionen, insbesondere aber der von Sprachrohren und Entscheidern in Politik und Finanzverwaltung, und davon wie denen, wenn sie erst einmal in Panik und Erklärungsnot geraten, der Strohhalm, nach dem sie greifen, im nächsten Schwung gleich zur Eisenstange gerät, die dann auf einfache Leute niedersaust, die wiederum nicht wissen warum, sehr wohl aber zu spüren bekommen, was ihnen da geschieht.
Die Autoren lassen ihre Erzählung für sich sprechen
All die erwähnten Thematiken und Zusammenhänge, und das ist das aus Storytelling-Sicht Gute daran, kommen so an der Oberfläche der Geschichte nicht vor: Sie sind allerdings folgerbar aus der Erzählung selbst und aus dem Bau der Geschichte. Und Brost, Schieritz und Uchatius vertrauen ihrer Geschichte, enthalten sich expliziter Meinung, Kommentierung und verweigern es tapfer, zwischendrin oder gar am Ende , eine ausdrückliche Botschaft draufzusetzen und die „Moral von der Geschicht“ nachzuliefern (eine Versuchung, der bei weitem nicht alle Journalisten widerstehen können, die mit Geschichten arbeiten). Dass sie durch die Art der Darstellung, durch Wahl und Wechsel der Perspektiven, durch Selektion der Elemente der dargestellten Welt sehr wohl eine ganz bestimmte Haltung präferieren und bestimmte Erkenntnisse provozieren, bleibt davon unberührt und ist das gute Recht jeden guten Erzählers.
Aber es bleibt eben dem Leser überlassen, nicht nur einem Plot mit Krimiqualitäten zu folgen, sondern nach und nach immer mehr Verknüpfungen zu re-konstruieren, immer neue Folgerungen zu ziehen und die Dimensionen der ganzen Handlung und ihrer Implikationen wachsen zu sehen. (Wie weit das der Einzelne treiben mag und kann, ist dabei zunächst einmal zweitrangig: Immerhin, wenn man die Folgerungen ziehen will, die sich aus diesem Erzähltext legitim ziehen lassen, dann sollte man schon mal vorsorglich das Beruhigungsmittel der persönlichen Wahl bereitstellen.)
Dass hier drei Autoren – und wie man vermuten darf, damit auch drei Rechercheure mit unterschiedlichen Schwerpunkten – am Ende einen Erzähltext abliefern, der nicht nur nicht gestückelt wirkt, sondern bei dem die Sub-Plots erfolgreich (will sagen: bedeutungserweiternd) zusammenspielen, ist bemerkenswert. Wer immer journalistisch tätig ist, kann hier jedenfalls eine Menge über die Möglichkeiten von Storytelling lernen.