Wer nicht interpretieren kann muss „dekonstruieren“
Kategorien Analyse (vulgo: Dekonstruktion), Storytelling-DiskursWo von „Storytelling“ die Rede ist, da wird gerne auch von „Dekonstruktion“ gesprochen: Frank Wilhelmy hat in der Diskussion zu seinem hier besprochenen Vortrag bei der Heinrich Böll Stiftung in der Diskussion – übrigens grundsätzlich zu Recht – darauf hingewiesen, dass da, wo Storytelling als Kommunikationstool wichtig ist (oder werden wird), die Beobachtung der Storys der Gegner bzw. Konkurrenten und deren „Dekonstruktion“ ebenfalls an Bedeutung gewinnen wird.
„Dekonstruktion“ – ein Placebo-Begriff
Nun scheint mir allerdings „Dekonstruktion“ einer von jenen Begriffen, die von manchen Rednern gerne als Placebos verwendet werden, welche vornehmlich Konsensangebote jenseits der inhaltlich-argumentativen Ebene des Textes darstellen: Verbrüderungsofferten nach dem Modell „Sie-wissen-schon-was-ich-meine-schließlich-sind-wir-alle-schlaue-Kerlchen-nech!“. Falls man seine Zuhörerschaft richtig eingeschätzt hat, fällt das Publikum mehrheitlich gerne drauf rein. Im Ergebnis entsteht ein Wir-Gefühl zwischen Menschen, die nicht aus-gebildet genug sind, als dass sie sich den eigenen Status als Gebildete gegenseitig nicht immer wieder bestätigen müssten.
Den Begriff der „Dekonstruktion“ im Kontext von Storytelling-Diskursen zu verwenden, hat dabei offenbar den Vorteil, dass man Expertentum signalisieren kann, ohne genauer darauf eingehen zu müssen; dass man mehrere, von den Rezipienten „intuitiv“ als wichtig und richtig erkannte Vorgehensweisen anklingen lassen kann, ohne präzisieren zu müssen, was man genau meint, wie zu operieren man gedenkt und unter welchen Voraussetzungen das alles stattfinden soll.
Was da an pawlow-reflexhaften „Intuitionen“ abgerufen wird, wenn von der „Dekonstruktion“ von Narrativen gesprochen wird, hat gemeinhin zwei Seiten: Einerseits und in den meisten Fällen geht es um „Demontage“ als „Dekuvrierung“, andererseits und logisch vorausgehend, um Analyse. Was letztere anbelangt, so hat Maître Derrida selbst dafür gesorgt, dass jeder, der den Begriff „Dekonstruktion“ verwendet und dabei eine Form der Analyse konnotieren will, von jeder intersubjektiv nachprüfbaren Art der Interpretation und Argumentation fürderhin befreit ist. Oder anders: Wer „Dekonstruktion“ sagt, wenn es um die Analyse von Storys geht, meint es mit dem Analytischen in Wahrheit nicht so ernst.
Also wird meist doch eher der Aspekt der „Demontage“ gemeint sein: Die Story des Gegners „auseinander nehmen“, Widersprüche entdecken und kenntlich machen, Inkohärenzen aufdecken, das und mehr sind Operationen der Demontage der Geschichten der Opponenten, die offenbar durch den Begriff der „Dekonstruktion“ bezeichnet werden sollen.
So weit, so gut: Meiner Meinung nach ist zwar die beste Strategie in einer Story-Battle, „Gegengeschichten“ zu erzählen (bzw. überhaupt eine gute, eine wirkliche Story zu erzählen), aber selbstverständlich ist auch das wichtig: Morsche Metaphern zusammenbrechen zu lassen, Nullpositionen aufzufüllen, den impliziten Wertesystemen ein Röntgenbild zu spendieren…
Analysekompetenz ist Managelware
Bleibt aber immer noch das Problem: Wenn ich die Geschichte, auf die ich reagieren möchte, nicht wirklich analysieren kann, wie will ich dann eigentlich adäquat auf sie reagieren können? Und Problem Nr. 2 wiegt gleich schwer: Wenn ich grundsätzlich Geschichten nicht fundiert analysieren kann, woher weiß ich dann, ob meine eigenen Geschichten nicht Risiken und Nebenwirkungen haben, die ich so eigentlich nicht in Kauf nehmen wollte? Ganz zu schweigen von Problem Nr. 3: Was kommt da auf uns zu, wenn Leute permament und öffentlich und „werblich“ Geschichten erzählen, ohne genau zu wissen, was damit alles sagen?
In der Werbung können wir es mittlerweile ja schon in Deutschland von Tag zu Tag deutlicher sehen: Story is King! (Von AXA bis AXE, und auch Weltmeisterboxer Klitschko darf nicht mehr einfach Produkte anpreisen, sondern muss im Rahmen einer Story schauspielern. Doch dazu ein andermal mehr). Aber nicht nur konkurrierende Unternehmen sondern auch konkurrierende Parteien, NGOs etc. werden zukünftig genau beobachten müssen, mit welchen „Geschichten“ ihre Wettbewerber versuchen, ihre Zielgruppen zu überzeugen, und ihre Folgerungen daraus ziehen. Und selbstredend werden auch Parteien das Storytelling von Firmen beobachten, Firmen das Storytelling von NGOs, Lobbyisten das Storytelling von Parteien undsofort. Es wird dann also in Zukunft nicht mehr nur darum gehen „aktive“ Storytelling-Kompetenz zu haben und selber erzählen zu können, es wird ebenso wichtig sein, analytische Storytelling-Kompetenz zu besitzen um verstehen zu können, was die anderen und man selbst eigentlich an Bedeutungen produzieren.
Damit ist es derzeit noch schlecht bestellt hierzulande, obgleich es die textwissenschaftliche und narratologische Kompetenz durchaus gibt: Sie sitzt nur nicht in den Marketing- und PR-Agenturen und auch selten in den Feuilletonredaktionen, sondern beschäftigt sich lieber mit kanonisierten Texten aus Literatur und Film, wie ich kürzlich bei einem Vortrag vor Mediensemiotikern und Literaturwissenschaftlern in Passau wieder feststellen konnte. Zeit wird‘s, dass man die Besten da rausholt und ihre Kompetenzen für die Gesellschaft nutzbar macht. (Aber dazu müssten sie sich natürlich auch selbst bewegen wollen.)